Eigentlich könnte Abdallah Abu Mdagim einfach wegziehen. Er könnte sich ein Haus kaufen, im nahen Ashdod an der israelischen Mittelmeerküste und mit seiner Frau und den zehn Kindern die Wüste hinter sich lassen. Sein schwarzer Mercedes S-Klasse steht blankgewienert im Staub neben der dürftig zusammengezimmerten Hütte aus Holzlatten und Plastikplane. Dem Wagen nach zu urteilen scheitert es nicht am Geld. Doch Abdallah Abu Mdagim will sein Dorf nicht verlassen.
"Das ist mein Land", sagt der 41-jährige Beduine mit der Fliegersonnenbrille und dem buschigen Schnauzbart, der ihm fast bis zu den Ohren reicht. Er wolle sich nicht vertreiben lassen, egal was passiert. Der Satz klingt nach einer leeren Drohung angesichts des großen Haufens aus Schutt und Zementbrocken, der von seinem Haus übrig geblieben ist.
Ende Juni war die israelische Landbehörde mit 1.300 Polizisten, Lastwagen voller freiwilliger Helfer aus der Siedlerbewegung und Bulldozern angerückt und hatte Abu Mdagims Dorf niedergewalzt, hatte die 45 Häuser aus Zement und Blech, die einst hier standen, in Schutthaufen verwandelt und 850 Oliven- und Eukalyptusbäume entwurzelt.
Danach war die Polizei noch viermal wiedergekommen, um auch die Zelte zu zerstören, die die Einwohner von al-Araqib zum Schutz gegen die Sonne errichtet hatten. Doch die Ereignisse der letzten Wochen sind nur die Eskalation eines seit Jahren schwelenden Streits darüber, wem das Land gehört, auf dem die insgesamt 35 Beduinenfamilien leben.
Al-Araqib ist eines von insgesamt 45 nicht anerkannten Beduinendörfern in der israelischen Negev-Wüste. Bis zur Gründung des Staates Israel waren die Beduinen die einzigen Bewohner der Region. Unter den Briten galten 98 Prozent des Gebiets als Beduinenland.
Während des Unabhängigkeitskriegs 1948 floh ein Großteil der indigenen Bevölkerung in die Nachbarländer Ägypten, Jordanien, ins Westjordanland und den Gazastreifen. Heute leben die verbliebenen rund 160.000 mittlerweile sesshaft gewordenen Nachfahren der ehemaligen Nomadenstämme in einem Dreieck, "Seyag" genannt, zwischen Beer Sheva, Arad und Dimona im Norden des Negev.
Doch auch hier wollen die israelischen Behörden die Beduinen nicht überall haben. Der Staat braucht das Land, in erster Linie für die jüdische Bevölkerung. Der erste israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion sprach davon, "die Wüste zum Blühen zu bringen". Doch die zionistische Vision, das Heilige Land zu besiedeln und den kargen Boden urbar zu machen, reicht bis zu den ersten jüdischen Pionieren zurück, die Ende des 19. Jahrhunderts ins damalige Palästina kamen.
Seit der Staatsgründung hat sich die Bevölkerung des kleinen Landes im Nahen Osten verzehnfacht. Allein im letzten Jahr kamen laut dem israelischen Zentralbüro für Statistik 14.500 neue jüdische Einwanderer nach Israel. Der Norden und das Zentrum des Landes sind dicht besiedelt. Die einzige Möglichkeit, sich weiter auszudehnen, liegt im Süden, in der Wüste, die mehr als die Hälfte des Staatsgebietes ausmacht.
2006 beschloss die damalige Regierung unter Ministerpräsident Ariel Scharon deshalb den Entwicklungsplan "Negev 2015", gemäß dem die Bevölkerung in der Wüste um 70 Prozent wachsen soll. 17 Millionen Schekel, umgerechnet etwa 3,5 Millionen Euro, investiert die Regierung in den Zehnjahresplan, um neue Dörfer zu gründen. Bis zum Jahr 2015 sollen insgesamt 900.000 Menschen im Negev wohnen.
Gleichzeitig weigert sich die israelische Landbehörde, das traditionelle Gewohnheitsrecht der Beduinen anzuerkennen. Das Land sei in den 1950er Jahren als nicht kultiviertes Staatsland konfisziert worden, heißt es. Die Beweislast vor Gericht liegt bei den Beduinen. In den 1960er und 1970er Jahren wurden sieben Retortenstädte wie das nahe liegende Rahat aus dem Boden gestampft. Trostlose Orte mit schäbigen Wohnwürfeln, ohne Bürgersteige, kaum Infrastruktur und Arbeitsplätzen. Dorthin sollen die Beduinen nach dem Willen der israelischen Behörden ziehen.
Wie in der Dritten Welt
Rund die Hälfte der ehemaligen Nomaden lebt mittlerweile in den Trabantenstädten, die Kritiker in Anlehnung an das südafrikanische Apartheidsystem "Townships" nennen. Sie alle gehören zu den zehn ärmsten Gemeinden Israels. Dörfern wie al-Araqib gewährt der Staat weder fließend Wasser noch Strom. Zufahrtsstraßen gibt es nicht, geschweige denn Geschäfte, ein Postamt, Schulen, Müllentsorgung oder ein Krankenhaus.
"Die Gesundheitsversorgung in den Beduinendörfern ist wie in der Dritten Welt", sagt Salah Haj Yahya, Mediziner der Physicians for Human Rights. Die NGO hat an diesem Nachmittag in al-Araqib ihre mobile Klinik aufgebaut. In der großen Hütte auf dem Dorfplatz stehen verschleierte Frauen mit ihren Kindern an, um sich von den Ärzten kostenlos untersuchen zu lassen. "Ohne fließend Wasser und Abwassersystem sind die Hygienebedingungen sehr schlecht", fährt der Mediziner fort. "Viele der Kinder haben Hautkrankheiten und leiden unter Durchfall."
Hinzu komme der mentale Stress, ausgelöst durch die wiederholte Zerstörung der Häuser. "Das Problem sind nicht die Häuser", sagt Mahmud Said. Der Trauma-Therapeut hat den ganzen Vormittag mit den älteren Kindern des Dorfes verbracht. "Spielzeug, Fotos, Schulhefte", zählt der Psychologe auf, "das alles haben die Bulldozer mitsamt den Häusern zerstört."
Doch die israelische Landbehörde sieht sich im Recht. "Der Stamm ist 1998 zum ersten Mal illegal in das Gebiet eingedrungen und hat ohne Genehmigung auf israelischem Staatsland gebaut", sagt Sprecherin Ortal Tsabar. 2000 erwirkte die Behörde eine einstweilige Verfügung, die den Familien verbietet, das Land, das sie ihr Eigen nennen, zu betreten. Die Behörde habe den Beduinen angeboten, das Land zu pachten. Doch die Familien hätten sich geweigert.
2003 kam der Räumungsbefehl. Seitdem haben die Beduinen in mehreren Instanzen gegen die Vertreibungen geklagt, bislang ohne Erfolg. Sowohl der Oberste Gerichtshof als auch das Bezirksgericht in Beer Sheva kamen zu dem Urteil, die Kläger könnten nicht eindeutig beweisen, dass das Land ihnen gehöre. Eine endgültige Entscheidung im Revisionsverfahren steht noch aus. Die Bulldozer kamen trotzdem.
Abu Mdagim lässt die Metallverschlüsse seines braunen Lederkoffers aufschnappen und breitet Dokumente in Klarsichtfolien auf dem sandigen Boden aus. Diese Papiere sind alles, was er gegen die israelischen Behörden vorzubringen hat. Das älteste stammt aus dem Jahr 1929. Abu Mdagim zeigt auf den Daumenabdruck, mit dem sein Großvater unter osmanischer Herrschaft sein Recht auf das Land mit schwarzer Tinte besiegelte. Das jüngste Dokument stammt von 1972. Die israelische Landbehörde registrierte damals die 32,5 Hektar, die Abu Mdagim im Norden der Negev-Wüste für sich in Anspruch nimmt, als sein Eigentum. Doch das scheint heute nicht mehr zu gelten.
"Hinter all dem steckt eine klare Ideologie", sagt Wasim Abbas, ein Mitarbeiter der Physicians for Human Rights, der sich seit Jahren um die Belange der Beduinen kümmert. Unter Ministerpräsident Ehut Olmert hatte es noch so ausgesehen, als könnte die Beduinenfrage gelöst werden. Ein Komitee unter Leitung des ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Eliezer Goldberg, hatte der Regierung 2008 in einem Bericht empfohlen, die Dörfer der ehemaligen Nomaden anzuerkennen und mit der nötigen Infrastruktur zu versorgen.
Doch die neue Regierung unter Benjamin Netanjahu will von diesen Vorschlägen nichts mehr wissen. "Einige rechtskonservative Mitglieder der Regierung betrachten die arabischen Beduinen als demografische Bedrohung", erklärt Abbas. Deshalb wolle man die indigenen Wüstenbewohner mit allen Mitteln von ihrem Land vertreiben, um anschließend die jüdische Bevölkerung dort anzusiedeln.
Und tatsächlich: Nicht weit vom Beduinendorf al-Araqib liegen die beiden jüdischen Nachbarorte Lehavim und Omer. Als zwei der wohlhabendsten Gemeinden des Landes gehören sie zu den Vorzeigeobjekten der israelischen Negev-Strategie. Statt Wellblechhütten reihen sich hier Einfamilienhäuser mit grünen Gärten und Palmen aneinander. Diese offene Ungerechtigkeit bringt Abu Mdagim in Rage.
"Wo ist der Respekt vor den Menschenrechten, der Respekt vor den Rechten von Minderheiten geblieben?", ruft er und schüttelt den Zeigefinger im Wüstenwind. Er wisse, dass nicht alle Juden so seien, fährt er fort. Schuld sei die Regierung. "Was ist das für eine Demokratie?", fragt er. "Offenbar nur eine für bestimmte Menschen!", sagt er. Aufgeben will Abu Mdagim trotzdem nicht. Die einzige Möglichkeit, ihn und seine Familie loszuwerden, sei die Deportation. "Ich stehe zu meinem Volk."
Quelle: TAZ
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen